Mietrecht
Prüfung von Härtefällen nach Eigenbedarfskündigung erforderlich


Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 22. Mai 2018 in zwei Entscheidungen seine Rechtsprechung zu der Frage präzisiert, wann ein Mieter nach einer ordentlichen Kündigung die Fortsetzung des Mietverhältnisses wegen unzumutbarer Härte verlangen kann (§ 574 Abs. 1 und Abs. 2 BGB).

Sachverhalt und Prozessverlauf

Miete | © Udo KoranzkiVerfahren VIII ZR 180/18
Die im Jahr 1937 geborene Mieterin lebt seit 1974 in der rund 73 Quadratmeter großen Dreizimmerwohnung in Berlin, die sie mit ihren beiden über 50 Jahre alten Söhnen bewohnt. Der Vermieter, der mit seiner Ehefrau und zwei Kleinkindern bislang zur Miete in einer 57 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung lebt, hat die Wohnung im Jahr 2015 zwecks Eigennutzung erworben.
Der vom Vermieter ausgesprochenen Eigenbedarfskündigung widersprach die Mieterin, weil ihr ein Umzug aufgrund ihres Alters, ihrer Verwurzelung in der Umgebung durch die lange Mietdauer sowie einer Demenzerkrankung, die sich durch den Umzug weiter zu verschlechtern drohe, nicht zumutbar sei. Nach einem im Verfahren vorgelegten Attest leidet die Mieterin an einer Demenz, die seit rund einem bis zwei Jahren fortschreite. Sie sei nur noch bedingt in der Lage, Neues zu erlernen und sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, weshalb ein Umzug mit einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes einhergehen würde.
Das Berufungsgericht hat die Räumungsklage abgewiesen. Es hat zwar die Eigenbedarfskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) des Vermieters für wirksam erachtet, hat jedoch wegen eines von ihm bejahten Härtefalls (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) bestimmt, dass das Mietverhältnis der Parteien auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde (§ 574a Abs. 2 Satz 2 BGB).

Verfahren VIII ZR 167/17
Die beiden Mieter leben seit 2006 in einer Doppelhaushälfte in einem Dorf in der Nähe von Halle. In dem Haus leben auch noch der volljährige Sohn der Mieterin sowie der Bruder des Mieters.
Im Jahr 2015 kündigten die Vermieter das Mietverhältnis mit der Begründung, dass die geschiedene, bisher in Bayern lebende Ehefrau in die Doppelhaushälfte einziehen wolle, um ihre dort in der Nähe lebende betagte Großmutter besser betreuen zu können.
Die Mieter widersprachen der Kündigung. Der Eigenbedarf sei vorgeschoben, der wahre Grund für die Kündigung seien Streitigkeiten über Mängel der Wohnung. Darüber hinaus beriefen sie sich auf Härtegründe, insbesondere auf die schwere Erkrankung des im Haushalt wohnenden Bruders des Mieters. Dieser ist in die Pflegestufe II eingruppiert und leidet an diversen Erkrankungen beziehungsweise Einschränkungen der Alltagskompetenz (Schizophrenie, Alkoholkrankheit, Inkontinenz, Demenz, Abwehrhaltung bei der Pflege). Er wird von dem als Betreuer bestellten Mieter im häuslichen Bereich versorgt. Nach einem in der Berufungsinstanz vorgelegten ärztlichen Attest eines Psychiaters würde ein erzwungener Umzug unweigerlich zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Bruders führen.
Die Vorinstanzen haben die Eigenbedarfskündigung für begründet erachtet und der Räumungsklage der Vermieter ohne eine Beweisaufnahme über den streitigen Eigenbedarf stattgegeben. Ein von den Mietern beantragtes Sachverständigengutachten zur drohenden Verschlechterung des Gesundheitszustands des Bruders wurde gleichfalls nicht eingeholt. Das Vorliegen einer unzumutbaren Härte hat das Berufungsgericht mit der Begründung verneint, dass sich aus dem für den Bruder vorgelegten Attest eine drohende schwerwiegende Beeinträchtigung oder drohende Lebensgefahr nicht ergebe.

Die Entscheidungen des BGH

Der BGH hat in beiden Fällen das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen, insbesondere zum Bestehen von Härtegründen. Da sowohl auf Seiten des Vermieters als auch auf Seiten des Mieters grundrechtlich geschützte Belange (Eigentum, Gesundheit) betroffen sind, seien eine umfassende Sachverhaltsaufklärung sowie eine besonders sorgfältige Abwägung erforderlich, ob im jeweiligen Einzelfall die Interessen des Mieters an der Fortsetzung des Mietverhältnisses diejenigen des Vermieters an dessen Beendigung überwiege (§ 574 Abs. 1 BGB).

Allgemeine Fallgruppen, etwa ein bestimmtes Alter des Mieters oder eine bestimmte Mietdauer, in denen generell die Interessen einer Partei überwiegen, lassen sich – entgegen einer teilweise bei den Instanzgerichten anzutreffenden Tendenz – nicht bilden. So werden sich etwa die Faktoren Alter und lange Mietdauer mit einer damit einhergehenden Verwurzelung im bisherigen Umfeld je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung des Mieters unterschiedlich stark auswirken und rechtfertigen deshalb ohne weitere Feststellungen zu den sich daraus ergebenden Folgen im Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich nicht die Annahme einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB.

Werden von dem Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels indes substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht, haben sich die Gerichte, wie der BGH bereits mit Urteil vom 15. März 2017 (Az.: VIII ZR 270/15) entschieden hat, beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.

Diese Rechtsprechung hat der BGH nunmehr in den beiden aktuellen Entscheidungen dahingehend präzisiert, dass ein Sachverständigengutachten regelmäßig von Amts wegen einzuholen sein wird, wenn der Mieter eine zu besorgende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes durch ärztliches Attest belegt hat. Auf diese Weise ist zu klären, an welchen Erkrankungen der betroffene Mieter konkret leidet und wie sich diese auf seine Lebensweise und Autonomie sowie auf seine psychische und physische Verfassung auswirken. Dabei ist auch von Bedeutung, ob und inwieweit sich die mit einem Umzug einhergehenden Folgen mittels Unterstützung durch das Umfeld beziehungsweise durch begleitende ärztliche und/oder therapeutische Behandlungen mindern lassen. Nur eine solche Aufklärung versetzt die Gerichte in die Lage, eine angemessene Abwägung bei der Härtefallprüfung des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmen.

In dem Verfahren VIII ZR 180/18 ist das Berufungsgericht zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Eigenbedarfskündigung des Vermieters wirksam ist. Es hat jedoch dem Erlangungsinteresse des Vermieters rechtsfehlerhaft deshalb („schematisch") ein geringeres Gewicht beigemessen, weil dieser eine vermietete Wohnung erworben hat. Zudem hat es die Härtefallabwägung im Rahmen des § 574 BGB ohne die gebotene Aufklärung über zu besorgende erhebliche Verschlechterungen des Gesundheitszustandes der Mieterin (Einholung eines Sachverständigengutachtens) und somit auf einer nicht tragfähigen tatsächlichen Grundlage vorgenommen.

In dem Verfahren VIII ZR 167/17 hat das Berufungsgericht schon die Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung rechtsfehlerhaft bejaht, weil es sich – trotz Bestreitens des Eigenbedarfs durch die Mieter – mit dem schriftsätzlichen Vortrag der Vermieter begnügt hat, statt den angebotenen Zeugenbeweis über die Ernsthaftigkeit des geltend gemachten Bedarfs zu erheben und gegebenenfalls die Mieter persönlich anzuhören.

Zudem hat das Berufungsgericht die für den Bruder des Mieters substantiiert dargelegten und durch Atteste belegten Härtegründe bagatellisiert und ebenfalls versäumt, ein Sachverständigengutachten zu den Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs auf den Gesundheitszustand einzuholen. Letztlich hat es ohne die erforderliche konkrete Abwägung zwischen den Interessen des Mieters und des Vermieters der Vermieterseite den Vorrang eingeräumt (Urteile des BGH vom 22. Mai 2018, Az.: VIII ZR 180/18 und VIII ZR 167/17).


Foto: © Udo Koranzki

Gerwing, Stephan | © manjit jariIhr Ansprechpartner
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